Der Begriff „Individualisierung“ birgt vielfältige Bedeutungen. Für den Kontext dieses Glossars sind aber vor allem die beiden folgenden interessant. Individualisierung meint:

a) den Grundsatz Sozialer Arbeit und der zugehörigen Gesetzgebung, Hilfsbedürftigkeit als Merkmal einzelner Menschen aufzufassen und zu verringern (vgl. Fuchs-Heinritz/Rammstedt 2011) und

b) einen gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozess, der vor allem die Lebensweisen der Menschen betrifft. Individuen erhalten im hohen Umfang erweiterte Wahl-, Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten bezüglich ihrer Lebensweisen, die sich weniger an bestimmten Gemeinschaften, Schichten, Klassen oder Werten orientieren. Dies äußert sich beispielsweise in einer zunehmenden Arbeitsmarkt-Individualisierung, einer Verschiebung vom Wohlfahrtsstaat zur stärkeren Betonung der Eigenverantwortlichkeit für soziale Absicherung und dem Einflussgewinn individueller Interessenlagen in Primärgruppen, wie Ehe und Familie (vgl. bpb 2012 & Fuchs-Heinritz/Rammstedt 2011). Zu beobachten ist teilweise auch eine gegenseitige Angleichung von Lebensweisen mehrerer Gesellschaftsmitglieder, um darin angesichts der Vielzahl der Möglichkeit neuen Halt zu finden (vgl. bpb 2012). Dabei können über (vorige) Schichten oder Milieus hinaus neue Gruppierungen und Zusammenhänge entstehen (siehe auch soziale Rolle), ohne dass sich an der ökonomischen Grundstruktur der Gesellschaft etwas ändern muss.

Ablehnung oder Kritik an Individualisierung und/oder ihren Konsequenzen kommt aus vielen politischen Lagern. Sie nimmt dabei unterschiedliche Formen an. Die von konservativen bis reaktionären Gruppen vorgebrachte Ablehnung geht dabei zum Teil einher mit einer Ablehnung auch von Emanzipationsbewegungen, die ebenfalls zu einem Bedeutungsverlust beispielsweise patriarchalischer Strukturen führten und führen.

Bezüge zur Sozialen Arbeit

In allen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit treffen vielfältigste Menschen aufeinander, die unterschiedlichste Interessen und Anliegen haben. Klient*innen, Kooperationspartner*innen und Kolleg*innen sind dabei als Individuen wahrzunehmen und sollten erfahren, dass sie mit ihren persönlichen Bedürfnissen und Bedarfen wahr- und ernstgenommen werden.           
In der Sozialen Arbeit sollte deshalb auch der Ansatz von Hans Thiersch zur Lebensweltorientierung Berücksichtigung finden. Nach diesem sind die individuellen sozialen Herausforderungen der Adressat*innen bezogen auf deren Alltag in den Blick zu nehmen und die Gestaltung der Unterstützungsangebote, Lebens- und Alltagsbegleitung danach auszurichten (vgl. Thiersch/Grunwald/Köngeter, 2012, S. 175 f.). Welche Maßnahmen für die jeweilig betroffene Person die geeignete ist und wann und wo der richtige Zeitpunkt und Ort ist, ist ständig neu zu überprüfen und anzupassen. Dabei sollte der Fokus der Fachkräfte nicht auf einzelnen Teilaspekten, Herausforderungen und Problemlagen der Adressat*innen liegen, sondern auf dem Menschen als Gesamtes. So sind z.B. nicht nur Defizite und Schwächen eines Kindes zu benennen und zum Thema zu machen, sondern auch dessen Stärken und besondere Fähigkeiten herauszustellen und mit diesem Gesamtblick das Kind als Individuum zu sehen.

Literatur

bpb – Bundeszentrale für politische Bildung (31.05.2012): Individualisierung. URL: http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/138404/glossar?p=73 [01.03.2017].

Fuchs-Heinritz, Werner/ Rammstedt, Otthein (2011): Individualisierung. In: Fuchs-Heinritz, Werner et al. (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie (5., überarbeitete Auflage). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 299.

Thiersch, Hans/ Grunwald, Klaus/ Köngeter, Stefan (2012): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. In: Thole, Werner (Hrsg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch, 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag, S. 175 - 196.

Leuphana Universität Lüneburg / Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik / Projekt "KomPädenZ Potenzial" 2017


Haftungshinweis: Wir übernehmen keine Haftung für die Inhalte externer Links. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich die betreibenden Personen oder Organisationen verantwortlich.

  • Keine Stichwörter