(abgeleitet von griechisch „andros“ = „der Mann“)

= geschlechtsbezogener Verzerrungseffekt (Gender Bias) in Wissen und Wahrnehmung, der in der ausschließlichen und oft unausgesprochenen Einnahme einer männlichen Perspektive besteht.

In Wissenschaft und Forschung äußert sich Androzentrismus darin, dass Ergebnisse für alle Menschen verallgemeinert werden, obwohl unausgesprochen Fragestellungen und Perspektiven untersucht werden, die primär Männer betreffen (vgl. Kühl 2010 und Lautmann 2011).

Bei Androzentrismus handelt es sich um eine Form der Diskriminierung und einen Ausdruck des Sexismus (vgl. Harding 2008). Zum Androzentrismus in der Wissenschaft lassen sich drei Untertypen herausstellen (vgl. Kühl 2010), die in ihren Grundzügen auch in vielen weiteren Lebensbereichen erkannt werden können:

1. Männer als die Norm: Die beispielsweise einer Forschungsfrage zugrunde liegenden Normen orientieren sich ausschließlich an Männern. Lebenswirklichkeiten einiger Frauen können nur als Abweichungen von dieser Norm dargestellt werden. Ein Beispiel dafür bildet die Setzung einer unterbrechungslosen Vollzeittätigkeit als „Normalarbeitsverhältnis“ (Kühl 2010).

2. Übergeneralisierung: Die anhand der erhobenen Daten gezogenen Schlüsse werden als für alle Geschlechter relevant eingeordnet, obwohl Frauen beispielsweise für die Datenerhebung ignoriert werden. Ein Beispiel bildet der Test eines Medikaments nur an Männern, sodass Ergebnisse über Dosierung und andere Aspekte für Frauen ggf. nicht zutreffen oder sich als gefährlich erweisen können (vgl. Kühl 2010).

3. Paradoxer Gynozentrismus: In der Erforschung von Bereichen, die sexistischen Auffassungen zufolge (weitgehend) weiblich konnotiert sind (z.B. Familie, Pflege und Reproduktion), werden Männer außen vor gelassen. Ein Beispiel bildet die Erforschung der Lage von Alleinerziehenden ausschließlich anhand von Frauen (vgl. Kühl 2010).

Das generische Maskulinum in der deutschen Sprache kann ebenfalls als eine Form des Androzentrismus aufgefasst werden. Eine gendersensible und gendergerechte Sprache kann in diesem Rahmen als Intervention gegen Diskriminierung eingesetzt werden (vgl. Reiss 2008).

Bezüge zur Sozialen Arbeit

Große Teile der Sozialen Arbeit waren in ihren Ursprüngen stark androzentristisch geprägt. Es ging u.a. um die Armenfürsorge, in der z.B. zu Beginn nur Männer arbeiten durften, die Arbeit mit Alkohol- und Drogenabhängigen sowie die Waisenhausarbeit. Dabei spielte die Frage des Geschlechts keine explizite Rolle. Es wurde auf Basis der jeweils geltenden gesellschaftlichen bzw. religiösen Normen gehandelt. Diese waren bis zur ersten Frauenbewegung vom Männlichen als Norm geprägt. Bis in die 1970er und 1980er Jahre hinein gab es in der Sozialen Arbeit kaum geschlechtsbezogene und geschlechtsreflexive Angebote. So war z.B. die offene Jugendarbeit nachweislich stark auf männliche Heranwachsende ausgerichtet. Mädchen hatten sich u.a. in die in den Jugendhäusern und -treffs herrschenden Strukturen und Angebote einzufügen (bzw. nutzten diese entsprechend seltener). Dadurch wurden Geschlechterstereotype aufgegriffen und verstärkt (überspitzt formuliert: Jungen als diejenigen, die sich die Umwelt aneignen; Mädchen als diejenigen, die neben der Schule überwiegend „sittsam“ zu Hause sind und dort der Mutter zur Hand gehen). Das änderte sich erst ab den 1970er Jahren, als verstärkt auch Mädchenförderung und -angebote Bestandteil der Sozialen Arbeit wurden (vgl. Funk/Heiliger 1988).

Heute ist die Beachtung der Bedürfnisse von Mädchen und Jungen gesetzlicher Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe. So heißt es in SGB VIII § 9: „Bei der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfüllung der Aufgaben sind […] die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen zu fördern.“

Literatur

Funk, Heide/ Heiliger, Anita (1988): Mädchenarbeit. Weinheim, München: Juventa-Verlag.

Harding, Sandra (2008): Wissenschafts- und Technikforschung: Multikulturelle und postkoloniale Geschlechteraspekte. In: Becker, Ruth/ Kortendiek, Beate (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie (2., erweiterte und aktualisierte Auflage). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 305–314.

Kühl, Jutta (2010): Gender Bias. URL: http://www.genderkompetenz.info/genderkompetenz-2003-2010/handlungsfelder/forschung/genderbias/index.html/ [24.11.2016].

Lautmann, Rüdiger (2011): Androzentrismus. In: Fuchs-Heinritz, Werner/ Klimke, Daniela/ Lautmann, Rüdiger/ Rammstedt, Otthein/ Staeheli, Urs/ Weischer, Christoph/ Wienold, Hanns (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie (5., überarbeitete Auflage). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 34.

Reiss, Kristina (2008): Linguistik. Von Feministischer Linguistik zu Genderbewusster Sprache. In: Becker, Ruth/ Kortendiek, Beate (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie (2., erweiterte und aktualisierte Auflage). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 742–747.

SGB VIII – Sozialgesetzbuch (Achtes Buch): Kinder- und Jugendhilfe. In der Fassung des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27. Dezember 2003 (BGBl. I S. 3022).

Leuphana Universität Lüneburg / Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik / Projekt "KomPädenZ Potenzial" 2017


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